Wolfgang Melzer

(Rednerladen)



Wolfgang D. Melzer

Refugium
Roman


THELEM
Universitätsverlag und Buchhandlung GmbH & Co.KG
Dresden und München 2023

348 Seiten, Hardcover

24,80 Euro


ISBN 978-3-95908-38-6




In naher Zukunft, nicht weit von hier . . .

Um einer tödlichen Epidemie zu entgehen, ziehen sich drei Familien in das Vorwerk Viertannen zurück, das ihnen bislang als Sommerfrische diente. Im Namen des Überlebens wird ihnen vom Herrschaftszentrum des Landes auferlegt, entweder die gefährdeten Organe durch bionische Apparate zu ersetzen oder das Gelände nicht mehr zu verlassen. Doch es regt sich Widerstand.
Aus Wochen werden Monat und Jahre. Und sie müssen erleben, wie sich die Welt außerhalb des Vorwerks rasant verändert. Den Exilanten wird klar, dass sie mit diesen Veränderungen nicht Schritt halten können.
Daraus entsteht die Frage, welchen Platz sie in dieser neuen Welt einnehmen werden.


Leseprobe

Kapitel 1 
Vorspiel im Labor


Der Glaskubus des Institutes für Neuronetische Technologien schimmerte mystisch blau in die Dämmerung. Lediglich aus drei Fenstern im zweiten Stock drang weißes Licht in dünnen Linien durch die Ritzen der Jalousien nach außen. Im Raum 214 blickten der Neuroniker Zwerch und der Bionetiker Bassur schweigend auf eine rundliche Frau unbestimmten Alters, die mit geschlossenen Augen auf einem mit Kunstleder bezogenen Stahlgestell mehr lag als saß. Sie waren allein im Haus. Die anderen Mitarbeiter des Instituts hatten das Gebäude vor einer halben Stunde verlassen und der Sicherheitsdienst würde erst in zwanzig Minuten durch die Korridore gehen, die Sicherheitsprotokolle an den Labortüren auslesen, die Sperren an den Zugängen zu den Serverräumen checken und an Bürotüren rütteln. Jetzt war alles still, fast konnte man die Männer atmen hören. Seit Tagen hatten sie diesen Abend vorbereitet. Es ging um viel: Morgen sollten sie dem Beirat des Instituts Greta präsentieren, das Ergebnis ihrer Forschungen. Danach würde sich zeigen, ob man ihnen weiteres Geld bewilligte, um Zwerchs Körperlichkeitsthese des Turing-Tests detaillierter auszuarbeiten. Diese These besagte, eine künstliche Intelligenz würde von einem unbefangenen Beobachter umso leichter als echte Intelligenz akzeptiert, je mehr ihr Träger einem Menschen ähnelte. Die meisten der Fachkollegen hielten das für lächerlich. Was Silikonlippen und falsche Haare mit Intelligenz zu tun hätten, fragten sie süffisant. Für sie war Pummelchen, wie sie Greta nannten, eine  anthropomorphisierende Spinnerei und komplett überflüssig.  Zwerch und Bassur mussten also nicht nur um Forschungsgelder kämpfen, sondern auch um ihre Reputation unter den Kollegen im Institut. Deshalb wollten sie nichts, aber auch gar nichts, dem Zufall überlassen. Deswegen der Probelauf heute Abend.

Lange hatten sie nach einem geeigneten Testpartner für Greta gesucht, denn einer Konversation mit einem Beiratsmitglied war Greta noch nicht gewachsen, da gaben sich die beiden Forscher keinen Illusionen hin. Sie wollten für den Anfang die Latte nicht unvernünftig hoch legen. Aus dem gleichen Grund kamen in diesem Fall auch Kollegen aus dem Institut nicht in Frage, denn auch die waren allesamt blitzgescheit und nüchterne Denker, und manchem von ihnen wäre es eine Wonne, dem Pummelchen eine Falle zu stellen. Daran konnte Greta leicht scheitern und dann wäre es Essig mit dem Geld. Also hatten sie eine Person mit mäßigem Verstand und einer gewissen Naivität gesucht.
Die Wahl war schließlich auf Viktor gefallen. Viktor arbeitete bei SecureCity, dem Sicherheitsdienst des Instituts.  Vor Tagen hatte Zwerch mit ihm zufällig ein paar Worte gewechselt und sofort gespürt: Dies war der ideale Kandidat für den Test. Weder war er besonders sprachgewandt, noch übermäßig intelligent oder gebildet. Noch ließ er Anzeichen eines störenden Ehrgeizes erkennen. Bassur seinerseits hatte sich auf Zwerchs  Urteil verlassen und zugestimmt, es mit Viktor zu versuchen.

Im Moment warteten sie darauf, dass Viktor zu ihnen stoße, dann konnte der Probelauf beginnen.
„Noch zehn Minuten“, sagte der hochgewachsene Zwerch mit einem Blick auf die Uhr an der Stirnseite des Labors, „sollen wir sie booten, was meinst du?“
Bassur brummelte Zustimmung und Zwerch begann mit der Boot-Sequenz. Routiniert tippte er Befehle ein, berührte zwei, drei Softkeys auf dem Bildschirm und schon war die Aufweckprozedur im Gange. Wenig später legte er der Erwachenden die Hand auf die Schulter: „Greta, es ist so weit.“ Während Greta die Augen öffnete, klopfte es an der Tür. Im Rahmen stand  ein kräftiger mittelgroßer Mann mit markantem Gesicht. Er trug kurz geschorenes Haar, seine Stirn wölbte sich nach vorn, der Mund war schmal, das Kinn zurückhaltend. Man könnte ihn für einen Russen halten, fand Bassur. . .